Von Gisbert Strotdrees, in: Wochenblatt für Landwirtschaft & Landleben, 26 (2016), S. 98
Ein Landwirt aus Westfalen war nach Konrad Adenauer der zweite Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen, der am 23. Mai 1949 in Bonn das Grundgesetz unterzeichnete – die alphabetische Reihenfolge hatte ihm diesen „Vize-Platz“ beschert: Die Rede ist vom Gutsbesitzer Adolf Blomeyer aus Mennighüffen bei Löhne. Er war eines von 65 Mitgliedern im Parlamentarischen Rat, der 1948/49 das Grundgesetz der neu zu gründenden Bundesrepublik ausgearbeitet hat.
Die spannende Geschichte dieser Verfassungsgebung erzählt das Bonner „Haus der Geschichte“ auf einer eigenen Internetseite. Über Blomeyer heißt es dort: „Er tritt nur in begrenztem Maße durch eigene Beiträge hervor.“
Tatsächlich zählte er nicht zu den herausgehobenen Persönlichkeiten im Parlamentarischen Rat wie etwa Konrad Adenauer, Carlo Schmid, Theodor Heuss oder Helene Weber, um nur diese vier zu nennen. Doch ein Blick in die Protokolle zeigt, dass auch Blomeyer der Verfassung einen Stempel aufgesetzt hat, den alle Wahlberechtigten alle vier Jahre aufs Neue zu spüren bekommen. Denn auf ihn geht das gemischte Wahlprinzip aus Erst- und Zweitstimme zurück, das bis heute bei Wahlen zum Bundestag angewandt wird.
Früh Gutsbesitzer
Adolf Blomeyer, geboren am 15. Januar 1900, stammte aus Mennighüffen bei Löhne, Kreis Herford. Er war eines von fünf Kindern des Ehepaares Dr. Friedrich Blomeyer und Anna Blomeyer, geb. von Recklinghausen. Sein Vater hatte erst ein Jahr zuvor, aus Brandenburg kommend, das Mennighüffer Gut Beck erworben. Dort wuchs Adolf Blomeyer gemeinsam mit vier Geschwistern auf.
Nach dem Abitur studierte er einige Semester Geschichte und Volkswirtschaft, ehe er eine landwirtschaftliche Ausbildung in Schlesien und in der Magdeburger Börde absolvierte. Als sein Vater starb, übernahm Adolf, gerade 24 Jahre alt, die Leitung des Gutes. Zum Gut Beck gehörten damals laut „Niekammer’s Güter-Adressbuch“ 253 ha Eigentum. 80 Schweine und 37 Milchkühe wurden dort gehalten – eine für damalige Verhältnisse stattliche Zahl. Neben der Tierzucht war die Saatgutvermehrung ein wichtiger Betriebszweig.
Verlinkung zum Foto von Adolf Blomeyer, http://parlamentarischerrat.de/mitglieder_891_mitglied=31_seitentiefe=3.html
Zwei Stimmen |
Wie soll in der Bundesrepublik gewählt werden: nach dem Mehrheitswahlrecht der Briten und Amerikaner? Oder nach dem Verhältniswahlrecht französischer oder skandinavischer Prägung? Darüber wurde im Parlamentarischen Rat quer durch alle Parteien und Flügel hitzig debattiert. Erst kurz vor Ende der Beratungen gelang es, den Knoten durchzuschlagen. In der Sitzung vom 5. Mai 1949 schlug Blomeyer vor, beide Wahlprinzipien zu verbinden: „Es handelt sich darum: Jeder Wähler erhält zwei Stimmen. Eine Stimme wird nach den Regeln des reinen relativen Mehrheitswahlrechts ausgewertet. Die andere Stimme wird nach den Regeln des reinen Proporzes ausgewertet.“ Dieses Mehrstimmenwahlrecht, wie er es nannte, würde „beiden Formen eine Chance geben“. Sein Vorschlag sei „ein echter Kompromiss“ und könne „in diesem Hause auch die Parteien auf eine gemeinsame Linie bringen“. Blomeyer fuhr wörtlich fort: „Ich gebe aber doch zu bedenken, ob es nicht möglich ist, sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer) diesen Vorschlag noch einmal zu durchdenken und damit beiden Wahlsystemen, die durch diese Form klar und sauber getrennt und überschaubar sind, eine Chance zu geben und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, dass wir als Parlamentarischer Rat zu einer wirklichen, echten Einigung gekommen sind.“ Der Vorschlag wurde nach mehreren Änderungen angenommen. Das System der zwei Wahlstimmen wurde probeweise bei der ersten Bundestagswahl im August 1949 umgesetzt. Nach dieser Bewährungsprobe wurde es beibehalten – bis heute. Str. |
Beifall und Widerstand
Der Historiker Christopher Beckmann bezeichnet in einem biografischen Porträt den jungen Gutsbesitzer als „typischen Vertreter eines konservativ-protestantischen Milieus“. Adolf Blomeyer stand demnach der Weimarer Demokratie distanziert bis ablehnend gegenüber. Er hegte Misstrauen gegen Parteien und Parlamente, wählte deutschnational und engagierte sich in Stahlhelm und Jungdeutschem Orden, die 1933 in die SA überführt wurden. Blomeyer, seit 1929 Bürgermeister von Mennighüffen, wurde SA-Obertruppführer, 1935 Ortsbauernführer, bald darauf Bezirksbauernführer. Eine glatte „braune“ Karriere also?
Beckmann weist andererseits auf die zunehmende Skepsis Blomeyers gegenüber dem NS-Regime in den Kriegsjahren hin. Er rieb sich vor allem an der antikirchlichen Praxis. Blomeyers Haltung schlug vollends um, als 1942 der Pfarrer Ernst Wilm verhaftet wurde, der das „Euthanasie“ genannte staatliche Mordprogramm der Nazis offen attackiert hatte. Es konnte auch Blomeyer nicht verborgen geblieben sein, er saß schließlich in leitenden Gremien der Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel und der Provinzialheilanstalt Wittekindshof, die unweit des Gutes Beck lag.
Als Wilm inhaftiert und in das KZ Dachau verschleppt wurde, ließ Blomeyer nicht locker, um dessen Freilassung zu erreichen. Er soll bei der Gestapo in Bielefeld und dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin vorstellig geworden sein. Er wagt es sogar, den KZ-Häftling zum Paten seines gerade geborenen Sohnes zu benennen. All das mündete darin, dass Blomeyer 1942 sein Amt des Bürgermeisters niederlegte – nach einer anderen Lesart ist ihm das Amt entzogen worden.
Mühevolle Aufbauarbeit
Nach Kriegsende 1945 hielt ihn die britische Besatzungsregierung für „politisch zuverlässig“, sodass sie ihn als Kreisbauernführer im Kreis Herford einsetzten. Blomeyer wurde außerdem in die westfälische Landessynode der evangelischen Kirche sowie in den Vorstand der Bodelschwingh’schen Anstalten gewählt. Die Erfahrungen im „Dritten Reich“ hatten ihn vor allem eines gelehrt: Man müsse, so schrieb er dem zurückgekehrten Pfarrer Wilm im November 1946, „in mühevoller Aufbauarbeit“ einen neuen Versuch mit der Staatsform der Demokratie machen, „nachdem wir mit dem totalitären Staat und seiner fehlenden öffentlichen Kontrolle eigene schmerzliche Erfahrungen gemacht haben“. Das deutsche Volk müsse eine ihm gemäße Form finden, „auf dass das Gebilde bodenständig und von Dauer werde“.
1947 wurde Blomeyer zum Vorsitzenden des Landwirtschaftlichen Hauptvereins Minden-Ravensberg und in den Vorstand des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes (WLV) gewählt. Er trat überdies der neu gegründeten CDU bei, die ihn 1948 in den Parlamentarischen Rat entsandte.
Nicht nur „Stimmvieh“
Blomeyer war dort keineswegs nur „Stimmvieh“ seiner Fraktion, wie es ein beobachtender britischer Offizier nahelegte. Blickt man in die Protokollbände des Parlamentarischen Rates, so war der Gutsbesitzer als Experte vor allem zu agrarischen Themen gefragt, etwa zur Bodenreform, der Ansiedlung von Flüchtlingsbauern, bei Fragen des Deichbaus oder des Pflanzenschutzes. Er saß überdies in den Ausschüssen für Rechtspflege, Zuständigkeiten des Bundes sowie – als Vertretung für einen erkrankten Abgeordneten – im Ausschuss für Wahlrechtsfragen (siehe Kasten). Nach Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und der Auflösung kehrte Blomeyer auf das Gut bei Löhne zurück. Er widmete sich der Entwicklung seines Betriebes – und der Arbeit in Organisationen des Berufsstandes und der Kirche. Eine Erkrankung zwang ihn Ende der 1950er-Jahre zum Rückzug aus seinen Ämtern. Er starb am 5. März 1969 in Mennighüffen.